Der Tag, an dem der Eiserne Vorhang fällt

17. Dezember 1989: Im Weinviertel kommt es zu einem Treffen von Österreichs Außenminister Alois Mock und Jiří Dienstbier, dem Außenminister der Tschechoslowakei. Gemeinsam durchschneiden sie den Eisernen Vorhang.

„Volksfeststimmung beim Grenzübergang Kleinhaugsdorf. Es ist kurz vor halb zwölf, alles wartet auf die Politprominenz“, so Ernst Gelegs, 1989 Redakteur des ORF Niederösterreich, in seinem TV-Bericht über diesen historisch wichtigen Tag. Niederösterreichs Landeshauptmann Siegfried Ludwig trifft ein, kurz danach Außenminister Alois Mock. Unzählige Journalisten und Journalistinnen sind anwesend, vor dem Grenzübergang formieren sich Vertreter eines vereinigten Europas, „Europa bis zum Ural“ heißt etwa eine Forderung, unterzeichnet mit „Europadorf Alberndorf“. „Auf beiden Seiten des Grenzübergangs hatten sich bereits viele hunderte, unheimlich begeisterte Menschen versammelt“, erzählt Herbert Schleich, Fotograf des Niederösterreichischen Landespressedienstes, in der aktuellen Ausgabe der „NÖN-Edition Geschichte“ mit dem Titel „Schicksalsjahre 1945 bis 2005“.

Mock und Ludwig warten auf CSSR-Außenminister Jiří Dienstbier. Neben den beiden steht Monika Dienstbier, 26 Jahre alt, die in Wien studiert und ihren Vater lange nicht gesehen hat. Dann ist es endlich so weit: „Jiří Dienstbier kämpft sich jetzt durch die Masse, kein Journalist will den entscheidenden Augenblick verpassen, es kommt zu einem nahezu lebensgefährlichen Gedränge“, so Gelegs. Und Schleich schildert das emotionale Wiedersehen von Tochter und Vater Dienstbier: „Tochter Monika lebte aus Sicherheitsgründen in Wien. Es war eine innige, ruhige und tränenreiche Umarmung nach fünf Jahren für Vater und Tochter.“

Erinnern für die Zukunft Mock & DienstbierSammlung Christoph H. Benedikter

Österreichs Außenminister Alois Mock (M.), neben ihm Jiří Dienstbier, der tschechoslowakische Außenminister, und dessen Tochter Monika Dienstbier

Fotografieren sei damals fast unmöglich gewesen. „Erst als mir Freunde mit ihren Händen ein Kreuz machten und mich hinaufhoben, konnte ich fotografieren. Endlich hatte ich Alois Mock und Siegfried Ludwig, Jiří Dienstbier und daneben auch den Haugsdorfer Bürgermeister Ferdinand Bock vor der Linse und am Foto“, erinnert sich Herbert Schleich an diesen Moment. Am 17. Dezember 1989 sollte er aber noch das emotionalste Foto seiner Fotografenkarriere machen, wie er den NÖN erzählte, nämlich das Durchschneiden des Eisernen Vorhangs.

Eigentlich wollen das die beiden Außenminister gleich hier in Kleinhaugsdorf machen, doch tschechoslowakische Grenzsoldaten waren schneller gewesen, die Grenzanlagen waren bereits abgebaut, und so fährt der Tross zu einer geplanten Kundgebung nach Laa an der Thaya. Dienstbier kündigt die Aufhebung des Visumszwanges für Österreicher an. Diese Maßnahme soll ab 20. Dezember bis vorläufig Ende Jänner gelten. Über den Zwangsumtausch müsse aber noch verhandelt werden, so der tschechoslowakische Außenminister. Österreicherinnen und Österreicher, die in die Tschechoslowakei einreisen, mussten damals einen bestimmten Betrag tschechoslowakischer Kronen erwerben. Alois Mock kündigt seinerseits an, dass Österreich die bis Jahresende angeordnete Visumfreiheit für CSSR-Bürger bis Ende Jänner verlängern werde. „Niederösterreich und die Niederösterreicher freuen sich mit ihren Nachbarn über mehr Freiheit und mehr Demokratie“, sagt Niederösterreichs Landeshauptmann Siegfried Ludwig in seiner Rede.

Bei der Kundgebung in Laa an der Thaya spricht sich Dienstbier dafür aus, die „Tragödien“ an der gemeinsamen Grenze seit 1945 durch eine bilaterale Untersuchungskommission klären zu lassen. Dies sei eine „moralische Verpflichtung“. Er ruft dazu auf, die Vergangenheit neu zu bewerten, den Blick jedoch auf die Zukunft zu richten. Auch Außenminister Mock plädiert dafür, aus der Geschichte zu lernen, aber „für die Zukunft zu arbeiten“. Er nimmt das Angebot Dienstbiers zur Errichtung einer Historikerkommission an und unterstreicht, dass Österreich den Weg, den das CSSR-Volk gewählt habe, „voll respektieren“ werde.

Nach den Ansprachen kommt es dann zu „einer Geste mit tiefem Symbolcharakter“, so ORF-Reporter Gelegs. Ludwig, Mock und Dienstbier schneiden mit einem Bolzenschneider den Stacheldrahtzaun des Eisernen Vorhangs durch. Herbert Schleich: „Jeder der Fotografen versuchte für sein Foto die Personen besonders aufzustellen. Und durch Zurufe zum besten Foto zu kommen: ‚‚Bitte zu mir schauen, Herr Minister, Herr Landeshauptmann, zu mir, zur Kamera!“

Erinnern für die Zukunft Eiserner VorhangNLK/Schleich

17. Dezember 1989: Die Außenminister Alois Mock und Jiří Dienstbier durchtrennen den Eisernen Vorhang an der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze bei Kleinhaugsdorf. In der Mitte zwischen den beiden Ministern steht Niederösterreichs Landeshauptmann Siegfried Ludwig.

Auch die Austria Presse Agentur betont die gute Stimmung bei diesem Zusammentreffen der Politiker aus beiden Ländern: „Sowohl bei der Begrüßung am Grenzübergang Kleinhaugsdorf/Hatĕ als auch in Laa/Thaya und bei der Durchschneidung des Eisernen Vorhangs waren hunderte Menschen aus beiden Staaten anwesend und verliehen dem ersten Besuch Dienstbiers im Ausland Volksfestcharakter.“

Der Eiserne Vorhang mit einer Gesamtlänge von 380 Kilometern wurde 1953 von der Tschechoslowakei angelegt, zahlreiche Fluchtversuche von CSSR-Bürgern und -Bürgerinnen endeten hier mit deren Tod. Gleich nach dem Ende des symbolischen Durchschneidens in Laa an der Thaya beginnen tschechoslowakische Soldaten mit dem weiteren Abriss der Stacheldrahtsperren.

Erinnern für die Zukunft Eiserner Vorhang
NLK/Schleich